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Forschungsorientiert Lehren – forschungsorientiert Studieren: Grundlagen und Voraussetzungen für forschendes Lernen

Was ist forschendes Lernen? Das Wesentliche ist die theoretische Erfahrung. Dieses Ziel für eine forschungsorientierte Lehre mit forschendem Lernen hängt zum einen mit dem Kriterium der Wissenschaftlichkeit zusammen. Zum anderen wird theoretische Erfahrung für ein praktisch wirkendes Wissen, d.h. für die Erweiterung der Denk- und Handlungsfähigkeit bedeutsam. Theoretische Erfahrungen, wie sie hier gemeint sind, stehen also nicht allein im Dienst der Theorie oder des ‚Elfenbeinturms Wissenschaft‘. Sie gehören zu all den handlungsrelevanten Erfahrungen, die Menschen heute in nicht geringem Maße indirekt und daher auch vermittels gedanklicher Arbeit mit Erkenntnissen und Begriffen früherer Generationen machen müssen. Das heißt, dass sich die Handlungsfähigkeit von Forschenden (vor allem im Forschungsprozess) nicht allein auf ihren unmittelbaren Erfahrungsraum stützen lässt. Mit theoretischen Erfahrungen entstehen exaktere Vorstellungen davon, wie man in der Welt in konkreten Situationen wirken und eingreifen kann und mit welcher Voraussicht man dies auch tun sollte. Auf ihrem Hintergrund können sowohl sinnvolle Formen der Antizipation (Aufmerksamkeit, Achtsamkeit) als auch der Reflexion (Nachvollziehen-, Erklären- und Bewerten-Können) gebildet werden. Jede theoretische Erfahrung ist eine Erfahrung in sozialen Kontexten, in denen Menschen durch einen theoretisch erarbeiteten (d.h. theoretisch strukturierten) Erkenntnishorizont ihre Denk- und Handlungsfähigkeit erweitern. Trifft dies auf einen Lernprozess zu, so handelt es sich um forschendes Lernen.

Forschendes Lernen und Kompetenz

Entwickelt sich mit forschendem Lernen Kompetenz? Kompetenz nenne ich eine Form gekonnten Handelns. Doch behandeln viele Ansätze gekonntes Handeln als Resultat, bedingt durch dahinterstehende ‚Kompetenzen‘. Legt man diesen Gedanken dem Kompetenzbegriff zugrunde, so erkennt man vielleicht noch an, dass es auch einen bestimmten Kontext braucht, wenn man ‚Kompetenzen‘ realisieren möchte. Aber ansonsten scheint alles Relevante in einer Reihe psychologischer Merkmale zu liegen: Fähigkeiten, Fertigkeiten, Wissen, Einstellungen, alles Dinge, die auf der Innenseite des Subjekts verortet werden. Beleuchten wir von diesen Merkmalen einmal das Wissen genauer.

Wissen scheint für Können nicht unbedeutend zu sein. Aber reicht es, Wissen zu haben? Nichts ist praktischer, als eine gute Theorie, wusste schon Kurt Lewin. Aber selbstverständlich ist Theorie ja nicht Praxis selbst. Erweitern Menschen ihre Handlungsfähigkeit, so kann man z.B. sehen, dass sie dabei etliche gedankliche Handlungen und Probehandlungen vollziehen müssen. Wenden sie hier Wissen auf praktische Probleme an? Ja, auch. Aber nicht nur. Es nützt dem gekonnten Handeln nicht im Sinne eines intelligenten Plans, dem man nur zu folgen hätte. Vielmehr geht es beim gekonnten Handeln um das dabei nötige gedankliche Handeln, das die Sachverhalte des Handlungskontextes aus unterschiedlicher Perspektive bewerten und beurteilen kann. Unter anderem muss ein Handelnder zwischen ‚kompetentem‘ und ‚inkompetentem‘ Handeln eine Grenze ziehen, will er/sie in einer Situation nicht bloß irgendwie reagieren, sondern eben gemäß bestimmter Kriterien gekonnt handeln.

Dieser Auseinandersetzungsprozess mit Vergehensweisen oder Handlungsformen, bei dem Kriterien gebildet und angelegt werden und ihre Relevanz kritisch geprüft wird, spielt sich aber niemals rein auf der Innenseite eines einzelnen Subjekts ab. Er wird meist in sozialen, insbesondere in kooperativen Zusammenhängen vollzogen, da er zum einen von der Bewertung einer mehr oder weniger großen Allgemeinheit abhängig ist und zum anderen auch kritische Impulse von außen benötigt. Das wird besonders deutlich, wenn sich das Urteil ‚kompetent‘ in Bezug auf eine beobachtete Handlung auf den Stand wissenschaftlicher Forschung bezieht. Wissenschaftlich gebildete Kriterien sind nie rein individuell-subjektiv. Sie sind auch keine stabilen Merkmale. Sie können sich im Laufe der Zeit gewaltig verändern. Vor diesem Hintergrund kann ein und dasselbe Handeln einmal als ‚kompetent‘, das andere Mal als ‚inkompetent‘ bewertet werden.

Der heute weit verbreitete Kompetenzbegriff ist ein sehr vereinfachter und, mit Verlaub, von einer Prüfungsbürokratie geborener Gedanke. Das Hervorbringen eines Könnens hängt nicht von Merkmalen ab, sondern von der Psychodynamik allen menschlichen Verhaltens und von der reflexiven Einordnung bestimmter Handlungen, Ziele und Folgen ab. Entsprechend ist das Verhältnis von Wissen und Können wie folgt zu definieren:

Weder ist Wissen eine Ursache für Können, noch ist Kompetenz eine Ursache für Performanz, sondern „Wissen“ und „Kompetenz“ sind Begriffe oder Vorstellungen, mit deren Hilfe wir nicht nur Können bei anderen oder im Allgemeinen erkennen, sondern auch uns selbst einer bestimmten Denk- und Handlungsfähigkeit bewusst werden und sie unserem Selbst zuschreiben können: „Ich weiß, wie es geht“ oder „Ich weiß, warum mein Handeln sinnvoll bzw. richtig ist“. Kompetenz ist folglich eine Dimension des (Selbst-)Bewusstseins.

In der Verwendung des Plurals (‚Kompetenzen‘) wirft der Kompetenzbegriff das theoretische Problem auf, warum sich welche Kompetenz gegenüber einer Vielzahl anderer Kompetenzen in einem Moment des Handelns durchsetzen kann. Gibt es da irgendwo eine Metakompetenz, die immer genau weiß, wann welche Kompetenz vonnöten ist? Und wenn ja, worin besteht sie? Diese Überlegung führt in einen infiniten Regress, der psychologisch nicht haltbar ist. Aus diesem Grund ist die übliche Rede- und Denkweise, alles Können wäre auf ‚Kompetenzen‘ rückführbar, irrsinnig.

(Vgl. dazu Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes, 1949;
vgl. zum Begriff der theoretischen Erfahrung und zur Erneuerung der Kompetenztheorie:
Ines Langemeyer: „Das Wissen der Achtsamkeit. Kooperative Kompetenz in komplexen Arbeitsprozessen“, Münster: Waxmann 2015)

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